Rudolf Steiner zu Individuum, Menschenrechte, Nation und "Rasse"

Untertitel: Eine Spurensuche in seinem Werk
Status: laufend
Startdatum: 01.08.2023
Enddatum: 31.07.2025
Projektträger: Pädagogische Forschungsstelle Stuttgart
Projektverantwortliche: Prof. Dr. Albert Schmelzer

„Die Anthroposophie ist im Kern eine elitäre, dogmatische, irrationale, esoterische, rassistische, antiaufklärerische Weltanschauung.“ Dieses Statement stammt aus dem Buch „Anthroposophie. Eine kurze Kritik“ von André Sebastiani, das 2021 in dritter Auflage erschienen ist. Eine solche Fundamentalkritik ist gegenwärtig kein Einzelfall, sie reiht sich vielmehr ein in eine Fülle von Büchern, Artikeln und Fernsehsendungen, welche die Anthroposophie als reaktionär einstufen. In diesem Kontext wird besonders auf die Äußerungen Steiners zu den „Rassen“ verwiesen.

Wenn auch ein Teil dieser Kritik nicht in viel mehr als dem Aneinanderreihen problematischer Steiner-Zitate und der Verwendung stereotyp gebrauchter, nicht näher definierter Termini wie Rassismus, Nationalismus oder Antisemitismus besteht, so wird doch deutlich, dass die „Stuttgarter Erklärungen - Waldorfschulen gegen Rassismus und Diskriminierung“ von 2007 und 2020 tendenziell als beschwichtigend und bagatellisierend empfunden werden. Enthält das gesamte Werk Rudolf Steiners, wie es in dem Dokument heißt, wirklich nur „vereinzelte Formulierungen“, die „von einer rassistisch diskriminierenden Haltung der damaligen Zeit mitgeprägt“ sind, oder hat Steiner nicht vielmehr - zumindest zeitweise – versucht, den rassentheoretischen Diskurs seiner Zeit in das anthroposophische Menschenbild zu integrieren? Und ist - wie Ralf Sonnenberg vermutet - eine „Geschichtshermeneutik, welche den Aufstieg und Fall von Rassen, Völkern und Kulturen vorsah,“ nicht als ein „strukturelles Problem“ und eine „unbewältigte Erblast“ anzusehen?

Vor diesem Hintergrund erscheint, ergänzend zu den bisherigen Veröffentlichungen, eine weitere Studie sinnvoll, welche folgende, bisher nicht ausreichend berücksichtigte Gesichtspunkte einbezieht:

  1. Die Sensibilität gegenüber Diskriminierungen und Rassismus ist im letzten Jahrzehnt enorm gestiegen. Entsprechend gibt es einen lebhaften Diskurs über einen adäquaten Rassismus-Begriff. Es gilt, diesen Diskurs zumindest in seinen Grundzügen nachzuzeichnen, um zu einer der gegenwärtigen Debatte angemessenen Begriffsbildung zu kommen. Denn diese stellt den Maßstab dar für die Frage, inwiefern Rassismus im Werk Steiners vorliegt. Eine geeignete Grundlage dafür bietet Albrecht Hüttigs Beitrag „Der wissenschaftliche Diskurs über Rassismus. Ein Überblick über Definitionen, Positionen und Tendenzen der neueren Zeit"; er ist in einigen Punkten zu ergänzen. Vor allem ist zu beachten, dass der Begriff der „Rasse“ wissenschaftlich unhaltbar geworden ist: „Rasse“ gilt heute als Konstrukt. Zwar lassen sich selbstverständlich Unterschiede in der äußeren Erscheinung von Menschengruppen aufweisen, doch haben genetische Analysen gezeigt, dass die Differenz zwischen „Rassen“ gering ist und die Varianten fließend sind, weshalb die Gliederung nach „Rassen“ keine wissenschaftliche Grundlage hat.
  2. Die Frage, inwiefern das Werk Rudolf Steiners rassistisch geprägt ist, wird sich nur beantworten lassen, wenn Steiners Aussagen zu den „Rassen“ in sein Gesamtwerk eingeordnet werden. In diesem Zusammenhang spielen besonders zwei Aspekte eine Rolle: seine Freiheitsphilosophie und seine Haltung zu den Menschenrechten. Beide Gesichtspunkte sind daher in eine Darstellung zu integrieren, wobei Steiners Konzept einer sozialen Dreigliederung eine besondere Bedeutung zukommt.
  3. Für eine Bewertung der Äußerungen Steiners zu den „Rassen“ erscheint es bedeutsam, sich zu vergegenwärtigen, zu welchem Zeitpunkt diese Aussagen gemacht wurden. Nur so wird sich klären lassen, ob und wann Steiner bestimmte Positionen zurückgenommen beziehungsweise modifiziert hat, kurz: inwiefern eine Entwicklung in seinem Werk vorliegt. Methodisch erscheint daher eine chronologische Darstellung der Grundzüge der Entfaltung der genannten Aspekte in Steiners Werk erforderlich.
  4. Ebenso relevant ist die Frage der historischen Kontextualisierung der Aussagen Steiners. Wie positionierten sich Zeitgenossen Steiners, speziell Wissenschaftler, zur Frage der „Rassen“? Mit welchen Konzepten hat sich Steiner auseinandergesetzt, welche hat er gegebenenfalls übernommen, welchen stand er ablehnend gegenüber? Ansätze zur Beantwortung dieser Frage finden sich in den Veröffentlichungen von Helmut Zander und Ansgar Martins, sind allerdings zu ergänzen beziehungsweise zu modifizieren.
  5. Ein zentrales Kapitel der Studie wird die Charakterisierung und Bewertung der Positionen Steiners sein. Dazu tragen die werkimmanente Betrachtung wie auch die historische Kontextualisierung wichtige Bausteine bei.  Hier ist die inzwischen öffentlich aufgeworfene Frage zu diskutieren, inwiefern Rudolf Steiner ein Fall für die Cancel Culture sei. Eine solche Debatte wird gegenwärtig im Vorblick auf das 300-jährige Jubiläum seines Geburtstags am Beispiel von Immanuel Kant (1724 – 1804) geführt. Es steht zu erwarten, dass Vergleichbares zu Anfang des Jahres 2025, hundert Jahre nach dem Tod Rudolf Steiners, geschehen wird.
  6. Der Blick auf Rudolf Steiners Werk hat auch eine Bedeutung für die aktuelle und zukünftige Ausrichtung der Waldorfschulbewegung. Daher sollen in einem abschließenden Kapitel die Konsequenzen reflektiert werden, die aus der Studie für die Gegenwart zu ziehen sind. Dabei wird es zum einen um die Positionierung zu Steiners Werk gehen. Welche Facetten erscheinen als zukunftsweisend, welche sind zu hinterfragen, von welchen sollte sich die Schulbewegung klar distanzieren? Zum anderen gilt es ein Bewusstsein zu schaffen für eine Schieflage, in welcher sich die deutsche Waldorfschulbewegung befindet: Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund aus ökonomisch schwachen sozialen Schichten sind deutlich unterrepräsentiert. Mit einer solchen zwar nicht intendierten, aber faktisch vorhandenen Selektion liegt – folgt man dem heutigen Rassismusbegriff – eine institutionelle Diskriminierung im Kontext eines strukturellen Rassismus vor.  Strebt man eine antirassistische Waldorfpädagogik an, steht die Schulbewegung daher vor der dringenden Herausforderung, eine höhere soziale wie auch kulturelle Diversität der Schülerschaft zu erreichen.