Zentralabitur Biologie in Hessen: Gründe für das erfolgreiche Abschneiden der Waldorfschüler/innen

Untertitel: Stimmt der erste Eindruck, dass die hessischen Waldorfschüler/innen trotz einer bis einschließlich der 10. Klasse deutlich anders gearteten Beschulung im Fach Biologie in den zentral gestellten Biologie-Leistungskurs-Aufgaben in den Abiturklausuren mindes
Status: abgeschlossen
Startdatum: 01.08.2012
Enddatum: 31.05.2015
Projektträger: Pädagogische Forschungsstelle Stuttgart , Freie Waldorfschule Marburg
Projektverantwortliche: Dr. Dirk Rohde
Beteiligte Personen: Uwe Hericks

Im diesem ersten Teil des Projektes ging es darum, die in den Jahren 2007 bis 2012 in den hessischen Freien Waldorfschulen erzielten Ergebnisse in den zentral gestellten Biologie-Leistungskurs-Abiturklausuren zu ermitteln und sie mit den Ergebnissen benachbarter Gymnasien zu vergleichen. Hintergrund ist, dass der Biologie-Unterricht in Freien Waldorfschulen völlig anders strukturiert ist als in den Gymnasien, sodass nach herrschender Lehrmeinung die Waldorfschüler eigentlich in derselben Prüfungssituation, wie sie in zentralen Prüfungen gegeben ist, schlechter abschneiden müssten als die Gymnasiasten. Erstere legen - gemäß einer Vereinbarung mit dem Land - dasselbe Abitur ab wie Letztere. Ab Herbst 2012 konnten nun - dank der finanziellen Unterstützung durch die Forschungsstelle - dazu eine Reihe sehr aufschlussreicher Daten ermittelt und ausgewertet werden. Eine umfangreichere Veröffentlichung darüber ist in Vorbereitung.

  1. Die Unterstützung des Projektes durch das Kultusministerium wurde erfolgreich eingeholt.
  2. Die Biologie-Kolleg(inn)en der hessischen Waldorfschulen haben alle erforderlichen Daten zur Verfügung gestellt. Von den 10 Schulen nahmen 8 teil; eine entfiel wegen nicht vorhandener Oberstufe, eine konnte sich nicht zur Teilnahme entschließen.
  3. Das Vorhaben, diese Daten mit denen benachbarter Schulen mit gymnasialer Oberstufe (bei denen die sozialen Unterschiede zwischen den Elternhäusern beider Schulformen nicht so gravierend sind) zu vergleichen, gelang nur teilweise. Ich war von den mir vertrauten Marburger Verhältnissen ausgegangen, hier herrscht eine enge Kooperation zwischen allen Schulen. Das ist aber, wie erst im konkreten Projektverlauf deutlich wurde, eine in Hessen einzigartige Situation. An den anderen Standorten konnten die dortigen FWS-Kolleg(inn)en die Gymnasialdaten nicht bekommen. Ich griff daher auf meine eigenen Kontakte zu gymnasialen Schulleitern zurück, die ich durch meine Aktivitäten auf Landesebene kenne. So ist es mir gelungen, von immerhin 7 gymnasialen Oberstufen aus 6 Städten Daten zu bekommen, allerdings nur in Marburg im ursprünglich geplanten Umfang. Für 2 FWS gibt es dementsprechend keine staatliche Vergleichsschule, für 1 jedoch sogar 2. Diese Gymnasien bzw. Gesamtschulen sind aber wegen ihrer Standort-bedingten sozialen Spezifika nur eingeschränkt mit den FWS vergleichbar.
  4. Ursprünglich war geplant, Daten bis 2012 zu erheben, weil ab 2013 in den Gymnasien die ersten G8-Jahrgänge im Abitur waren. Da die FWS bei G9 geblieben sind, wäre eine Vergleichbarkeit dann nicht mehr gegeben gewesen. Es stellte sich aber heraus, dass die Unterschiede zwischen den Abiturergebnissen der G8- und G9-Schüler, die das Land ermittelte, kaum erheblich waren. Daraufhin habe ich auch die Daten für 2013 in das Projekt einbezogen.
  5. Die erhobenen Gym-Daten sind aber - s. 3. - nur in Marburg wirklich belastbar mit den FWS-Daten vergleichbar. Um eine echte Vergleichbarkeit herbeizuführen, wurden deshalb drei Wege beschritten:
    • Es wurden alle Gym- sowie alle FWS-Daten zusammengefasst, um den Stichprobenumfang zu vergrößern und eine bessere Vergleichbarkeit herbeizuführen.
    • Es wurden beim Kultusministerium die Bio-LK-Abiturklausur-Durchschnittsnoten der gesamten Jahrgänge angefragt. Es gelang mir (auch dies ein Ergebnis meiner langjährigen Kontakte) tatsächlich, diese an sich nicht zugänglichen Daten ausnahmsweise zu bekommen. Dadurch wurde ein Vergleich aller FWS-Daten mit den Gym-Daten ganz Hessens (!) möglich.
    • Der schulspezifische Vergleich wurde auf Marburg beschränkt.
  6. Insgesamt konnten 1518 Individualdaten erhoben werden, 664 FWS und 854 Gym. Die Daten beziehen sich auf das Geschlecht, den Abiturjahrgang, die Abiturdurchschnittsnote und das Ergebnis in der Biologie-LK-Abiturklausur.
  7. Die Ergebnisse sind wie folgt (SuS = Schülerinnen und Schüler):
    • Die hessischen FWS-SuS schneiden nicht nur gleich gut, sondern tendenziell sogar besser ab als die der erfassten Gymnasien und auch besser als die hessischen Gymnasiasten insgesamt.
    • Die erfassten Gymnasiasten schneiden schlechter ab als die hessischen Gymnasiasten insgesamt.
    • Gemessen an der Abitur-Durchschnittsnote lässt sich feststellen, dass in Hessen diejenigen FWS-SuS, die Biologie als LK wählen, genauso gut im Abitur insgesamt abschneiden wie die übrigen FWS-SuS ihres Jahrgangs. In den erfassten Gymnasien wählen dagegen vermehrt leistungsschwächere SuS Biologie als LK. Das erklärt zumindest zum Teil das bessere Abschneiden der FWS-SuS in der Bio-LK-Abiturklausur.
    • Es gibt eine leichte Tendenz, dass in den FWS die Schülerinnen in der Bio-LK-Abiturklausur besser abschneiden als die Schüler, während es in den Gymnasien umgekehrt ist.
    • In Marburg ist dies alles genauso, außer dass die FWS-SuS in der Bio-LK-Abiturklausur signifikant schlechter abschneiden als die Gym-SuS. Dieser Effekt ist vorwiegend auf das deutlich schlechtere Abschneiden der Schüler zurückzuführen, während die Schülerinnen nur wenig schwächer abschneiden als die des Nachbar-Gymnasiums. Allerdings liegt dieses Gymnasium im hessischen Vergleich regelmäßig über dem Biologie-Landesdurchschnitt.
    • Die Nachforschung nach den Ursachen für diese auffällige Marburger Besonderheit ergab, dass sie vor allem darauf zurückzuführen ist, dass die FWS-SuS nur zwischen den LKs Biologie und Englisch wählen können, wobei der Bio-LK deutlich bevorzugt wird. Das führt dazu, dass auch viele schwächere SuS in Marburg mit Biologie LK ihr Abitur absolvieren. An den anderen hessischen FWS wird dieser Effekt durch mehr Auswahl und z.T. auch Aufgliederung in einen Realschul-/FHR- sowie einen Abitur-Zweig deutlich abgeschwächt.
    • Parallel wurde versucht, Aufschluss zu erlangen, inwieweit die FWS-SuS Probleme mit formalen Anforderungen (insbesondere Rechtschreibung) haben. In diesen Fällen erfolgt der Abzug in der Abiturklausur - je nach Schwere - von einem oder zwei Punkten vom ursprünglich erzielten Ergebnis. Nur vom Marburger Gymnasium waren dazu Vergleichsdaten zu bekommen, da sie aufwendig in Akten recherchiert werden müssen. Es zeigte sich, dass die Marburger FWS-SuS auch hier schlechter abschneiden als die Gym-SuS. Die FWS Marburg liegt hier aber im hessischen Vergleich im Mittelfeld aller FWS. Die Heterogenität im Bereich Punktabzüge ist innerhalb der FWS so groß, dass nur schwer verlässliche Schlüsse daraus zu ziehen sind.
  8. Die Zusammenarbeit mit der Universität Marburg verlief sehr konstruktiv. Die sich in Vorbereitung befindliche Veröffentlichung wird gemeinsam mit Dr. Stellmacher aus dem Fachbereich Psychologie verfasst.
  9. Die Überlegung, an die erste erfolgreich verlaufene Projektphase eine zweite anzuschließen, wurde von allen Seiten begrüßt. Es geht jetzt darum, herauszufinden, warum die Waldorfschüler im Zentralabitur in Biologie so gut abschneiden wie sie es tun, wenn ihre Voraussetzungen dafür doch so anders sind als die der Gymnasiasten. Dazu habe ich bereits mit 25 SuS zweier FWS sowie zweier benachbarter Gymnasien Interviews führen können. Die dokumentarische, qualitative Forschungsmethode wurde gewählt, weil so viele Gründe derzeit vorstellbar sind, dass es sinnvoll ist, jetzt auf diesem Wege die hauptsächlich infrage kommenden zu ermitteln. Die Interviews wurden mit den SuS einmal kurz vor dem schriftlichen Abitur und einmal direkt nach Abschluss der gesamten Prüfungsphase durchgeführt. Sie wurden bereits transkribiert. Es liegen also jetzt 50 Interviews zur Auswertung bereit. Je nach Ergebnis werden einige der SuS ausgewählt und Ende 2015 nach Beginn ihrer beruflichen Ausbildung ein drittes Mal interviewt. Ich habe bereits an mehreren Fortbildungen teilgenommen und werde dies auch weiterhin tun, weil ich mich mit der qualitativen Auswertung der Interviews teilweise auf für mich neues wissenschaftliches Terrain begebe. - Da die Datenerhebung für die erste Projektphase so langwierig war, wurde mit der zweiten Phase bereits begonnen, bevor die erste abgeschlossen war, um die Zeit optimal zu nutzen.
  10. Meine Betreuer Prof. Sommer (Kassel) und Prof. Grebe-Ellis (Wuppertal) sowie Prof. Hericks und Dr. Stellmacher (beide Marburg) haben mich darin unterstützt, einen Förderantrag für die zweite Projektphase erfolgreich zu stellen. Dabei war auch ausschlaggebend, dass die Forschungsstelle die erste Phase gefördert hat, dies fiel bei der Mittelbewilligung positiv ins Gewicht. Da der Datenumfang inzwischen - dank der zahlreichen Hilfen der beteiligten Personen und Schulen - so groß ist, ist jetzt geplant, innerhalb der nächsten vier Jahre - was also über den ursprünglich ins Auge gefassten Zeithorizont hinausgeht - die Ausarbeitung des Themas so weit voranzubringen, dass daraus eine Habilitation entsteht. Die Unterstützung des Fachbereichs Erziehungswissenschaften der Marburger Universität ist durch die Kooperation mit Prof. Hericks gegeben. Momentan sind drei Viertel der dafür notwendigen Finanzierung sichergestellt. Das verbleibende Viertel wird im Laufe der nächsten Monate einzuwerben sein, auch mit einem weiteren Antrag an die Forschungsstelle. Die von der Forschungsstelle bewilligten Gelder aus der ersten Projektphase wurden allerdings nicht vollständig verbraucht, ein Teil konnte rückerstattet werden.
  11. Die geplante unterrichtliche Vertretung und damit Entlastung meinerseits, um Freiraum für die Arbeit am Projekt zu schaffen, gestaltete sich schwieriger als erwartet. Es ist nicht leicht, für die Oberstufen-Arbeit in einer einzügigen Schule adäquaten Ersatz zu finden. Obwohl ich zum Zeitpunkt der Antragstellung an die Forschungsstelle (Ende 2011) mich bereits von der prinzipiellen Eignung der infrage kommenden Lehrkräfte überzeugt hatte, verlief deren Einsatz in der Praxis schließlich weniger erfolgreich als erhofft. So konnte meine geplante Entlastung nur teilweise realisiert werden, und einen größeren Anteil des Unterrichts musste ich schließlich selbst übernehmen, d.h., die Arbeit am Projekt musste ich zu erheblichen Teilen zusätzlich zu meinen übrigen Verpflichtungen leisten. Das war eine merkliche Belastung. Inzwischen konnte ich aber für die zweite Projektphase eine durch und durch kompetente Vertretungskraft finden. Es konnten bereits Erfahrungen mit ihr gemacht werden, sie kann mich äußerst zuverlässig vertreten. Sie hat fest zugesagt, das in den nächsten Jahren tun zu können, sodass die zweite Projektphase durch sie vollständig abgesichert ist.
  12. Ich kann in den Marburger Schulen nicht selbst Interviews durchführen, da die Schülerinnen und Schüler mich kennen und dadurch Befangenheiten auftreten können. So wurde der Weg gewählt, ergänzend zu meinen Erhebungen Student(inn)en in derselben Richtung in Marburg Interviews durchführen und Daten sammeln zu lassen. Aufgrund meiner langjährigen Dozenten-Tätigkeit am Fachbereich Erziehungswissenschaften der hiesigen Universität bekam ich ausnahmsweise die Erlaubnis, Staatsexamensarbeiten von Lehramts-Student(inn)en als Zweitkorrektor betreuen zu können. Das hat in Kooperation mit Dr. Stellmacher als Erstkorrektor bereits begonnen und erste spannende Resultate erbracht. Zwei Arbeiten sind schon abgeschlossen, eine dritte ist gerade in Arbeit, und die vierte ist für den Winter in Vorbereitung. Da dies aber bereits deutlich über die erste Projektphase, über deren Ergebnisse hier zu berichten ist, hinaus- und in die zweite hineingeht, beschränke ich mich auf die Erwähnung dieser Tatsache.

Dem zweiten Teil dieses Projekts ist eine eigene Projektbeschreibung gewidmet.